ROM, MOMENTE

Immer, wenn ich in Rom bin, übernachte ich in einer kleinen Pension auf dem Caelius-Hügel und frühstücke in einer Bar, direkt um die Ecke. Dort gibt es ein einfach möbliertes Hinterzimmer, wo man sein Frühstück auch im Sitzen einnehmen kann. Aber ich ziehe es vor, zwischen den Römern an der Bar zu stehen und das morgendliche Treiben zu beobachten. Mir gefällt es, Alessandro, den schmächtigen Barista, an der riesigen Kaffeemaschine hantieren zu sehen, jeder Handgriff sitzt, und ich genieße das Geräusch, wenn der Kaffeesatz aus dem Filterträger in die Schublade geklopft wird. Alessandro hat ein phänomenales Gedächtnis. Schon am zweiten Morgen brauche ich ihm nicht mehr sagen, was ich möchte. Unaufgefordert schiebt er mir den Teller mit dem Hörnchen, ein Glas mit Leitungswasser und den Cappuccino über den Tresen. Nie vergisst er, ihn mit einem etwas schiefen, in Eile fabrizierten Milchschaumherz zu verzieren.

Ich beiße in das noch warme Gebäck und schaue mich um. Dicht gedrängt stehen die Frühstücksgäste an der langen Theke. Herren in eleganten Anzügen, zwei Arbeiter von der Stadtreinigung, drei modisch gestylte junge Damen und ein halbes Dutzend Carabinieri in ihren schönen dunkelblauen Uniformen, mit rotem Seitenstreifen an der Hosennaht und dem Emblem einer stilisierten, flammenden Granate an der Mütze. Ein kleiner Trupp asiatischer Touristen, beladen mit Rucksäcken und Kamerataschen, nimmt im Hinterzimmer Platz, und Alessandro bedient sie in Windeseile.

Dann kommt ein blonder, etwa 50jähriger, noch sehr jungenhaft wirkender Mann herein. Er trägt verwaschene Jeans, und aus der Brusttasche seines kurzärmligen Hemdes schaut ein Rom-Stadtplan hervor. Ein deutscher Tourist. Er nimmt jedoch nicht bei den Asiaten Platz, sondern drängt sich an der Theke zwischen mich und einen hochgewachsenen, gutaussehenden und vornehm gekleideten Römer.

Er bestellt einen Latte Macchiato und ein Hörnchen mit Marmelade. Als er nach dem Gebäck greift, stößt er versehentlich den Römer an. Auf seine Entschuldigung hin schenkt dieser ihm ein Lächeln und ein gelassenes "Fa niente." Dies ermutigt den Deutschen, ein Gespräch zu beginnen. Er spricht ein recht passables Italienisch mit hartem Akzent. Ich tippe auf mindestens acht Semester Volkshochschule. Der Blonde erzählt dem Römer, dass er aus Stuttgart käme, jedes Jahr nach Italien reise und nun bereits das dritte Mal in Rom sei. Sein Gesprächspartner scheint es nicht eilig zu haben, hört aufmerksam zu und berichtet seinerseits von einem Besuch in Deutschland während seiner Studienzeit. Mit zwei Kommilitoninnen sei er per Anhalter nach München getrampt, aus Geldmangel habe man auf Parkbänken im Englischen Garten genächtigt. Es sei sehr schön gewesen damals, gern dächte er daran zurück.

Der Deutsche freut sich, dass der Römer aufgeschlossen und gesprächig ist. Endlich hat er mal ausgiebig Gelegenheit, seine Italienischkenntnisse an den Mann zu bringen. Der Römer berichtet, dass er in späteren Jahren noch einige Male geschäftlich in Frankfurt zu tun gehabt habe, im Grunde genommen Deutschland aber nicht gut kenne. Sicherlich ein schönes Land, nur das Wetter, mutmaßt er, das sei wohl nicht so toll, meist kalt und grau und wenig Sonne.

"Überhaupt nicht!" erwidert der Tourist, den Klimawandel bekämen auch die Deutschen zu spüren. Es würde immer wärmer. Den ganzen April über hätten hochsommerliche Temperaturen geherrscht, und geschneit habe es im vergangenen Winter so gut wie gar nicht. Kein einziges Mal habe er seine Langlaufskier hervorholen können. "Was meinen Sie, was da wieder auf uns zukommt?!" seufzt er.

"Wie meinen Sie das, was kommt da auf Sie zu?" fragt der Römer etwas verwundert. Der Deutsche erzählt von der bevorstehenden Zeckenplage, mit der nach einem milden Winter zu rechnen sei. Er kommt zusehends in Fahrt und schildert seinem Gesprächspartner wahre Schreckensszenarien aus deutschen Wäldern. Er beschreibt, wie die Parasiten angeblich auf Bäumen lauern und sich auf nichts ahnende Spaziergänger stürzen. Er schildert eingehend die gefährlichen Krankheiten, die von Zecken übertragen werden. Man sei machtlos, man bekäme die Sache einfach nicht in den Griff.

"Ja, und wie schützen Sie sich dann im Wald beim Pilzesammeln?" möchte der Römer wissen. "Pilzesammeln! Das können Sie in Deutschland komplett vergessen, die sind seit Tschernobyl verstrahlt und ungenießbar!" gibt ihm der Tourist zur Antwort.

Du meine Güte, denke ich, der lässt ja kein gutes Haar an unserem Land! Der Römer schaut in der Tat etwas betreten drein. Er wird es wohl bei seinen gelegentlichen Geschäftsreisen nach Deutschland belassen und nicht auf die Idee kommen, im Schwarzwald Steinpilze sammeln zu wollen.

Einen Augenblick lang schweigen die beiden, dann legt der Deutsche noch mal nach: "Wissen Sie, wenn Sie nach Hawaii reisen und in Honolulu aus dem Flieger steigen, dann hängen Ihnen schöne, junge Mädchen zur Begrüßung eine Blütenkette um den Hals. Wenn Sie hingegen in Frankfurt landen, hängt man Ihnen neuerdings beim Betreten deutschen Bodens ein Anti-Zecken-Halsband um!"

Ich denk', ich hör' nicht recht. Der Römer wirkt zunächst etwas irritiert, dann aber platzt er los vor Lachen, er kann sich nicht mehr halten, er lacht Tränen. Auch der Deutsche verzieht das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Ein Landsmann mit Witz, ich bin angenehm überrascht und kann mir das Lachen ebenfalls nicht verkneifen. Als sich der Römer etwas beruhigt hat, sagt er, noch mit Lachtränen in den Augen, "Ich hoffe, diese Zeckenhalsbänder haben wenigsten ein ansprechendes Design und sehen nicht so aus wie die für Hunde. Ich könnte mir sehr gut eine Kette aus Objekten in Form kleiner Kartoffeln oder Wurstel vorstellen." Es sagt tatsächlich "Wurstel" und nicht etwa "Würstchen" oder "Würstel".

Mit Blick auf seine Uhr sagt er dann, dass er sich nun auf den Weg ins Büro machen müsse. "Es war nett Sie kennen zu lernen, ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Rom", fügt er höflich hinzu. Er verabschiedet sich und verlässt die Bar.

Auch ich gehe, Alessandros "A domani!" im Ohr, vergnügt und heiter in einen neuen römischen Tag.




DER RÖMISCHE RITTER

zu Satellitenüberwachung und Zeckenplage

Kürzlich machte mich mein Sohn darauf aufmerksam, dass Google Earth die Bildqualität enorm verbessert habe, ich solle doch mal wieder einen Blick auf unser Haus werfen. In der Tat war die Schärfe der Darstellung verblüffend. Man konnte nun viele Details ausmachen: den Sonnenschirm und die Liegestühle auf der Terrasse, den Wagen vor der Garage, einen Steinhaufen, den mein Mann für eine geplante Gartenmauer aufgetürmt hatte, ja sogar den Briefkasten am Haupteingang.

Ich schickte dem Römischen Ritter umgehend ein aktuelles Satellitenfoto, damit er es gegen die alte, verschwommene Luftaufnahme vom Musenseele-Haus austauschen konnte.

Auch der Ritter hatte längere Zeit keine Flüge mehr mit Google Earth unternommen und war erstaunt, nun so viele kleine Einzelheiten zu entdecken. Er berechnete die Distanz zwischen unseren Häusern und schrieb, dass das Zentrum meines Sonnenschirmes exakt 816 km 803 m und 56 cm von seinem Kopfkissen entfernt wäre.

Bei aller harmlosen Google-Earth-Spielerei kam uns doch auch in den Sinn, dass eine Überwachung via Satellit etwas Unheimliches, Bedrohliches habe, eine Echtzeit-Observierung erst recht. Der Ritter schrieb, man müsse sich wohl damit abfinden ausspioniert zu werden oder demnächst unter der Erde leben. In nicht allzu ferner Zukunft wäre sicherlich jeder von uns in der Lage, den anderen aus der Vogelperspektive zu beobachten. Ein Vorteil wäre natürlich, dass man Einbrecher und Diebe durch diese Möglichkeit der Kontrolle schnell überführen und dingfest machen könne.

Schwere Zeiten kämen seiner Meinung nach jedoch auf heimliche Liebhaber zu. Die müssten sich mit ihrer Angebeteten in dichte Wälder zurückziehen, um im Schatten hoher Bäume dem scharfen Überwachungsauge aus dem All zu entgehen. Dabei träfe es die Deutschen mit Sicherheit besonders hart, schließlich könnten sie ihr Schäferstündchen nicht einfach in den Wald verlagern, ohne sich den Gefahren einer Zeckenattacke auszusetzen. [Er hatte "Rom, Momente" gelesen und war über die Plagegeister in deutschen Gefilden informiert.]

Letztendlich, so seine logische Schlussfolgerung, würde die Kontrolle per Satellit dazu führen, dass die Deutschen zur Treue gezwungen würden.

In Italien hingegen, müsse man vermutlich schon bald mit einer neuen Einwanderungswelle rechnen. Doch kämen dieses Mal keine armen Afrikaner ins Land, sondern Deutsche auf ihrer verzweifelten Suche nach sicheren, unverseuchten Wäldern, in denen sie ihre geheimen Liebesträume ausleben könnten.


Die Distanzangabe wurde aus Datenschutzgründen verändert.
L'indicazione della distanza è cambiata causa privacy.



02.06.2013

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